Vision Kino 10 – Was bleibt vom Kongress?

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Zunächst ein herzliches Dankeschön an die Organisator/innen. Das Zusammentreffen war gut, teilweise sehr dicht und ein wichtiger Meilenstein beim aktuellen Übergang zu einer stärker vernetzten Film- und Medienbildung in Deutschland. Damit die Ergebnisse nicht wieder versinken im alltäglichen Wirbel der Reflexionen, schreibe ich hier einige Eckpunkte auf – Positionen bzw. Thesen, die ich für wichtig halte, die uns Orientierung geben könnten und sollten:

1. Filmbildung und Medienbildung bilden keinen Gegensatz! Filmbildung legt die Basis für eine fundierte Medienbildung im 21. Jahrhundert.

Das Medium Film ist ein „Brückenmedium“. Es spannt einen Bogen vom späten 19. in das frühe 21. Jahrhundert. Halb ist es den literarischen und dramaturgischen Traditionen der „Gutenberg-Galaxie“ verpflichtet, d. h. strukturell ein Printmedium, halb lädt es uns ein zur Erkundung der scheinbar unermesslichen Möglichkeiten einer vernetzten multimedialen – und z. T. auch multiplen – Existenz und Sichtweise auf die Welt. Es bietet uns die Möglichkeit, die Größe und den Wahnsinn des 20. Jahrhunderts zu verarbeiten sowie uns selbstbewusst und vor allem selbstbestimmt dem Prozess der Globalisierung zu stellen.

2. Die gesellschaftliche Funktion von Filmbildung liegt in der Förderung von Empathie und in der Chance zu audio-visueller Alphabetisierung.

Warum audio-visuelle Alphabetisierung? In der Allgemeinbildung erfolgt Alphabetisierung aktuell nach wie vor dominant und primär in literarisch-literater Form. Leider, muss hier angemerkt werden. Die Mehrzahl der Zielgruppe – Kinder, die im Kontext der Schulpflicht zu Eleven werden – erfährt konventionell eine eher geringe Wertschätzung ihrer originären Erfahrungen in der Begegnung mit Texten. Denn diese Texte sind ja in der Regel audio-visuelle, d. h. keine literarischen Texte. Es sind „illegitime“ Texte und Botschaften, die Kinder aus dem – je nach Bildungsstatus des Elternhauses – populärkulturellen „Parallel-Universum“ von Film, TV und Internet empfangen haben und, autonom für sich, lernten (!), als attraktiv und bedeutungsvoll zu rezipieren und zu interpretieren.

In der Institution Schule hingegen gelten diese Botschaften und Erfahrungen wenig. Cary Bazalgette hat in ihrer Keynote am Freitagmorgen auf diese primäre und prägende Medien- und Frusterfahrung verwiesen. Die kindliche medienkulturelle Feldforschung, dieser Impetus zu explorativem Lernen, kommt in der Regel im Klassenraum der Primarstufe zum Erliegen. Der „Ernst des Lebens“ entspringt einem fremden bzw. befremdlichen kulturellen Kontext. Wie viel lernlustvoller und persönlichkeitsstärkender wäre es doch, Alphabetisierung wenigstens gleichberechtigt auch als audio-visuelle Alphabetisierung zu erfahren?

3. Filmbildung findet per se weder ausschließlich im Kino noch im Klassenraum statt.

Mitunter störend beim Kongress war das Insistieren auf der Forderung, dass „wahre“ Filmbildung nur im Kino stattfinden kann. Nachvollziehen kann ich diesen Purismus, wenn er nüchtern seitens der Kinobetreiber vorgetragen wird. Dann ist die Motivlage klar. Eine Schräglage bekommt er hingegen, wenn er argumentativ überzogen wird und in Polemiken gegenüber Schulen und anderen öffentlichen, d.h. vermeintlich „hoch-subventionierten“, Einrichtungen mündet, die sogar nicht davor zurückschrecken, Filmbildung in Medienbildung zu integrieren und so „kulturell zu verwässern“. Filmbildung braucht beides: die methodisch-didaktisch professionelle Thematisierung im Klassenraum und das authentische Erlebnis im Kinosaal. Vermieden werden sollte gleichermaßen, dass Lehrkräfte aufgrund von Stress und organisatorischer Mehrarbeit letztlich den Aufwand scheuen, das Kino als außerschulischen Lernort zu nutzen, und dass Schulen darauf verzichten, die heutzutage exzellenten Möglichkeiten der Filmanalyse unter Nutzung digitaler Tools zu nutzen und Film-/Medienbildung stärker in den Alltag zu integrieren.

4. Medienbildung ist tendenziell lernmotivierend und kann ein wesentlicher Katalysator für pädagogische Innovation sein.

Der bekannte Kinder- und Drehbuchautor Paul Maar, Anfang der 1970er-Jahre noch als Kunsterzieher an kleinstädtischen Gymnasien in Baden-Württemberg tätig, berichtete am Donnerstagmorgen eindrücklich über seine damaligen Erfahrungen mit produktiver Filmarbeit. Für die Schülerinnen und Schüler war es zu jener Zeit der Motivationsschub schlechthin, selbstbestimmt mit der Super-8-Kamera erste eigene Filme zu drehen und diese dann einem „richtigen“ Publikum zu präsentieren. Das Lehrerkollegium hingegen beargwöhnte eher die innovative Methodik des jungen Kunsterziehers und verbannte die Filmarbeit in den außerunterrichtlichen, privaten Bereich.

Auf dem Weg hin zur Emanzipation ist die produktive Medienarbeit seit den 1970er-Jahren wohl ein kleines Stück vorangekommen. An innovativen Schulen wird sie als Teil von Unterricht akzeptiert und als wichtiger Bestandteil von Medienbildung gefördert. Die allgemeine Wahrnehmung und Wertschätzung hingegen, gerade im Zeitalter von Schulzeit-verkürzung und zentralen Prüfungen, ähnelt mitunter deutlich dem eher skeptischen Blick der ehemaligen Kolleginnen und Kollegen von Paul Maar: Können wir uns bzw. können sich unsere Schülerinnen und Schüler oder Kinder das heute überhaupt noch leisten? Wird da nicht kostbare Unterrichtszeit vergeudet?

Ich glaube: „Nein“. Die Wirkung von produktiver Film- und Medienarbeit ist gerade in der Entwicklungsphase der Adoleszenz, in der es um das Austesten von Rollen, die Eigen- und Fremdwahrnehmung, das Austarieren von Werten, Primär- und Sekundärtugenden geht, gar nicht zu unterschätzen. Film- und Medienarbeit wird dabei oftmals zu einem Synonym für intensivste soziale Lernprozesse und für komprimiertestes Methodenlernen. Die Schülerinnen und Schüler erfinden sich in der produktiven Film- und Medienarbeit neu. Die Projekte erfüllen die Funktion zeitgemäßer rites de passage.

5. Medienbildung ist mehr als der „pädagogische Beipackzettel“ für die entfesselte, neo-liberale Medienrealität des 21. Jahrhunderts.

Es geht primär nicht um das „reine“ Entschlüsseln von medialen Grammatiken oder die möglichst virtuose Handhabung mehr oder minder komplexer Funktionalitäten an der Schnittstelle zwischen Mensch und Informations- bzw. Kommunikationstechnologie: Medienbildung definiert das Fundament aufgeklärter Bürgerlichkeit im 21. Jahrhundert. Eine (Welt-)-Bürgerlichkeit, die sich frei macht vom Geschmack des 19. und 20. Jahrhunderts und kämpft gegen die Restauration autoritärer Strukturen im Kontext globaler Konzentrationsprozesse. Filmbildung ist in diesem Verständnis auch ein Stück Demokratiebildung. Und solange Demokratie nationalstaatlich verfasst ist, geht es also immer auch um ein Stück „Deutschbildung im globalen Medien-/Filmland“. Danke für die Möglichkeit zur Standortbestimmung und Kommunikation.

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