Diskussion um „Schulbuchtrojaner“ ist eine Wasserscheide

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Am 07.12.2011 fand in den Räumen der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin die Veranstaltung “Schulbuchtrojaner. Urheberschutz oder Gefahr für die Freiheit von Lehre und Forschung?” statt (bit.ly/s9bHmQ). Der Verlauf der Diskussion und einige der Gedankengänge, die durch die Veranstaltung angestoßen wurden, lassen sich im Netz nachlesen: z.B. #gibro (bit.ly/rQAep6), Netzpolitik.org (bit.ly/tlu5m4).

Fair fand ich, dass die Verlage - obwohl sie die Einladung zur Teilnahme am Podium ausgeschlagen hatten - nicht einseitig in absentia an den Pranger gestellt wurden. Den auf dem Podium geäußerten Respekt für die verlegerische Tätigkeit kann ich teilen, obgleich ich es für notwendig erachte, eingehender die gegenwärtige systemische Funktion der Verlage zu reflektieren. Mit Blick auf die Blockaden im öffentlichen Bildungswesen und die sich entwickelnde Diskussion an der Schnittstelle zwischen Bildungs- und Netzpolitik gilt es, hier genauer hinzuschauen.

Der Blickwinkel der Qualitätsentwicklung

Wie so oft, kommt es auf den gewählten Blickwinkel an. Ich möchte hier zunächst den Blickwinkel der Qualitätsentwicklung einnehmen. Ich muss dafür etwas weiter ausholen.

Diejenigen, die die inhaltlich-fachliche Erarbeitung der Lehr- und Lernmittel leisten, sind im Regelfall überdurchschnittlich engagierte und fachlich kompetente Lehrerinnen und Lehrer an Schulen in öffentlicher Trägerschaft. Es sind Beamte oder Angestellte im öffentlichen Dienst, die nebenberuflich ihre im Schulalltag gesammelten und bewährten professionellen Kompetenzen fachpublizistisch veredeln und zugleich, wiewohl die Honorare nicht üppig sind, auch ein Stück weit vermarkten. Diese - aus der Sicht der Verlage - freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden von Verlagsredaktionen betreut, Fremdrechte werden abgegolten, die Bezüge zu den Bildungsstandards und Rahmenplänen werden herausgearbeitet , etc. pp. Schlussendlich erfolgt in einigen Bundesländern eine abschließende Qualitätsprüfung und Zulassung durch das die Schulaufsicht ausübende Ministerium bzw. eine mit dieser Aufgabe betraute Behörde.

Die Ergebnisse dieser Arbeitsprozesse sind jährlich auf der „didacta“, der großen bundesdeutschen Bildungsmesse, zu besichtigen. Die Stände der großen Verlage, im Regelfall halbe Hallen, vermitteln einen Eindruck von der Dynamik und dem Potential, das in diesem Bereich steckt. Die Klett Gruppe z.B. erwirtschaftete so im Jahre 2009 mit rund 2.800 Mitarbeitern einen Umsatz von 466 Millionen Euro (vgl. bit.ly/uYhOId). Zu berücksichtigen ist, dass nicht der gesamte Umsatz aus dem Schulbuchgeschäft kommt; Lehr- und Lernmittel für den Einsatz im schulischen Umfeld, eingeschlossen der sogenannte „Nachmittagsmarkt“, bilden aber nach wie vor den Kernbereich dieser Unternehmen.

Systemisch betrachtet, macht die ganze Operation zunächst durchaus Sinn. Hinsichtlich der Qualität von Bildungsprozessen entsteht eine funktionelle Rückkoppelung. Aus pädagogischen Alltagsprozessen wird im übertragenen Sinne der Qualitätskern herausdestilliert und alltagstauglich wieder zurück ins System gespeist. In Gang gehalten wird diese Wertschöpfungskette - bezogen hier auf Schulbücher für Schulen in öffentlicher Trägerschaft - durch die finanziellen Mittel, die von öffentlicher und von privater Seite bereit gestellt werden.

Die Funktionsweise und Genese des Status quo (Teil I)

Den öffentlichen Schulträgern, vertreten durch die Kämmerer und Haushälter von über 11.500 Gemeinden, Städten und Landkreisen, stehen dabei die privaten (Eltern-)Haushalte von 10,5 Millionen Schülerinnen und Schülern zur Seite. Die Entscheidung für das ein oder andere Schulbuch erfolgt letztlich informell. Sie wird - zumindest bei größeren Schulen - in den Fachkonferenzen getroffen. Regelmäßig adressiert und z.T. auch besucht werden diese Fachkonferenzen von den Außendienstmitarbeiterinnen und -mitarbeitern der Verlage. Umgesetzt wird die Entscheidung für ein bestimmtes Schulbuch dann von den Trägern, denen aber in der Regel zu wenig Mittel zur Verfügung stehen, um kontinuierlich den Lernmittelbestand zu aktualisieren, oder von den Eltern, die - mehr oder minder freiwillig, um ihren Kindern möglichst optimale Lernbedingungen zu ermöglichen - auch etwas tiefer in die Tasche greifen. Abgemildert wird das Verfahren für die Eltern durch basisorganisierte Sammelbestellungen, die dann zumindest noch einen kompensatorischen „Rabattvorteil“ versprechen.

Entscheidender Knackpunkt bei der Wertschöpfungskette ist, dass eine zentrale Komponente der systemischen Qualitätsentwicklung, nämlich die wesentlichen Inhalte von Lehr- und Lernprozessen, also der Qualitätscontent, dabei rechtlich in einen anderen Aggregatzustand transferiert wird. Der Qualitätscontent wird - aus Sicht der öffentlichen Seite - privatisiert. Er wird zum rechtlich exklusiven Produktionsmittel der Verlage, urheberrechtlich geschützt. Und Urheberrechte sind Eigentumsrechte. Wer daran rüttelt, stellt die Grundfeste der Gesellschaft in Frage.

Konsequenzen und Perspektiven

Perspektivisch bedeutet dies, dass sich Deutschland auf dem Weg in die Informations- und Wissensgesellschaft an entscheidender Stelle, dem Zugriff auf Qualitätscontent für Allgemeinbildung (einem zentralen Aspekt gesellschaftlicher Reproduktion), ohne Not in eine strukturelle Abhängigkeit begibt.

Insgesamt entsteht damit ein asymmetrisches Verhältnis. Es sind die Verlage, die die Formate, die Geschäftsmodelle und den Preis der Nutzung bestimmen. Atmosphärisch wurde dieser Aspekt bei der Podiumsdiskussion mehrmals angetippt. Er bedingt das ungute Gefühl im Magen, auf das einige Diskussionsteilnehmer hingewiesen haben.

Salopp ausgedrückt, lässt sich das asymmetrische Verhältnis mit folgendem Bild beschreiben: „Der Rahm im System wird abgeschöpft und den Bauern als Butter verkauft“. Neudeutsch ausgedrückt nennt sich das Ganze dann informelle „Public-Private-Partnership“. Ja, es stimmt. Die öffentliche Seite hat auch Vorteile von der Partnerschaft. Die Entwicklung, die Produktion und der Vertrieb von qualitativ hochwertigen Lehr- und Lernmitteln sind aufwändig. Die Zusammenarbeit mit den Verlagen entlastet die öffentliche Hand. Aber zu welchem Preis?

Die Funktionsweise und Genese des Status quo (Teil II)

Im Zeitalter eingeschränkter Möglichkeiten technischer Reproduktion war der Status quo dieser „Public-Private-Partnership“ allgemein akzeptiert und funktionierte im Alltag auch reibungslos. Hinzu kam, dass weitgehend toleriert wurde, dass auf Arbeitsebene die ein oder andere Kopie aus einem Schulbuch (oder sonstigem Lehr- und Lernmittel) unter Missachtung der rechtlichen Bestimmungen erfolgte. So lange die Schulen, „damals in der analogen Welt“, noch weitgehend abgeschlossene, unvernetzte Teilbereiche darstellten, war dies aus der Sicht der Rechtehalter auch eine zu vernachlässigende Randerscheinung. Da wurde ein Auge darauf geworfen, ab und an ein Abmahn-Exempel statuiert und gut war. Der Ball wurde flach gehalten. Teile der Lehrerschaft, die passionierten „Jäger und Sammler“, nutzten diese rechtliche Grauzone mehr oder minder intensiv. Subjektiv stellte sich das Gefühl ein, eine Art „Gewohnheitsrecht“ wahrzunehmen.

Nun aber, da alle Schulen in der Republik am Netz sind und die Herstellung von digitalen Kopien „kinder- bzw. lehrerleicht“ geworden ist, hat sich die Gesamtkonstellation deutlich verändert. Ansätzen einer öffentlichen Diskussion über die notwendige Neufassung des Urheberrechts, auch mit Blick auf den Bereich der öffentlichen Bildung, wurde durch den Bereichsvorbehalt bei der Revision des 2. Korbs des Urheberrechtsgesetzes zunächst ein Riegel vorgeschoben. Die vermeintliche Ruhe währte aber nur kurze Zeit. Die Spannungen und Handlungsnotwendigkeiten auf dem Weg in die Informations- und Wissensgesellschaft sind zu groß, um in diesem strategisch zentralen Bereich vor allem defensiv ausgerichtete Regelungen dauerhaft aufrechtzuerhalten.

Die Aufregung von Teilen der Lehrerschaft, durch den Rahmenvertrag von der Kultusverwaltung „verraten“ worden zu sein, und die Angst der „Jäger und Sammler“, nun einer virtuellen urheberrechtlichen (Schul-)Hausdurchsuchung ausgesetzt zu sein, sind verständlich, sie berühren aber nicht den zentralen Punkt.

Die Wasserscheide

Alle Beteiligte spüren, dass mit der Diskussion über den sogenannten „Schultrojaner“ eine Wasserscheide überschritten wurde. Der Verhandlungserfolg der Verlage, in den Rahmenvertrag mit den Ländern den Einsatz einer Plagiats-Software festzuschreiben, ist ein Pyrrhussieg.

Das, was die Diskussion um den sogenannten „Schultrojaner“ nun befördert, ist der längst überfällige engere Dialog zwischen pädagogischer Praxis und Content-Entwicklern, zwischen Lehrer/innen und Schüler/innen, zwischen Bildungs- und Netzpolitik, zwischen Datenschutz und Medienpädagogik. In diesem Dialog stellen sich u.a. diese Fragen:

Welche ordnungspolitischen Veränderungen brauchen wir, damit es im 21. Jahrhundert zu einer intelligenteren Organisation von Wissensbildungsprozessen kommt?

Wie ermöglichen wir zukünftig gesellschaftlich einen intelligenten Zugriff auf Wissensinhalte für Allgemeinbildung?

Welcher rechtliche Rahmen ist dafür angemessen?

Wie kann dieser rechtliche Rahmen so einfach gehalten werden, dass er für möglichst viele Menschen verständlich ist?

Welches Mischungsverhältnis von offenen und proprietären Bildungsmedien brauchen wir?

Und vor allem, wie ist das finanzierbar?


Da gibt es viel zu besprechen. Nutzen wir die Aufregung um den „Schultrojaner“ zum Einstieg in einen fruchtbaren Austausch. Ich freue mich darauf.


PS: Weitere Fragen, die direkt oder indirekt bei der Diskussion anklagen und nicht weniger spannend sind, wären:
- Wie lässt sich bildungsmedial Inklusion befördern?
- Wie muss Lesekompetenzförderung bei Kindern aussehen, deren mediale Primärsozialisation eine audio-visuelle ist?
-Wie lässt sich Schule demokratisch organisieren an der Schnittstelle zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit, zwischen Zivilgesellschaft und Wirtschaft?


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